«Äs pressiert langsam» - Ein besseres Verständnis der Zeit

Am Jahreswechsel stellt man sich oft Fragen: Was habe ich eigentlich im vergangenen Jahr gemacht - es war so schnell vorbei?! Und: Welche Herausforderungen in diesen unsicheren Zeiten werden uns das kommende Jahr bescheren, wie werde ich sie bewältigen?

Wilhelm Busch hat einmal geschrieben: «Einszweidrei im Sauseschritt - läuft die Zeit, wir laufen mit!»

Wie oft haben wir den Eindruck, die Zeit rast wie in einem zu schnell laufenden Film - an uns vorbei! Und die Frage stellt sich: Gibt es kein Entrinnen aus dieser Zeitmaschine? Sind wir dem hilflos ausgeliefert? Ich meine: Nein!

Im Schweizer Dialekt gibt es die sinnige Redewendung «äs pressiert jetzt langsam!» - was besagen will: Es eilt jetzt wirklich, wenn nichts geschieht, droht Ungemach oder gar eine Katastrophe! Nur: Wie beeilt man sich langsam?? Dieser Widerspruch wird nicht aufgelöst - und dürfte für Fremdsprachler grösste Fragezeichen im Kopf hinterlassen.

Ungewollt spricht dieser Dialektausdruck aber eine tiefe Weisheit aus: Wenn man in Eile ist, geht man besser etwas langsamer. Wer unter Zeitdruck steht, sollte sich gut überlegen, wie man mit der Zeit umgeht. Und auch bedenken, ob es klug ist, sich oder jemand anders unter Zeitdruck zu setzen.

Ein persönliches Erlebnis (Leser und Leserinnen meines Blogs haben es schon einmal gehört) hat mir das unauslöschlich ins Erfahrungsgedächtnis eingeprägt. Vor rund 15 Jahren hatte ich Gelegenheit, in einer kleinen Gruppe von Bergsteigern den Piz Palü (3900 m.ü.M. Kanton Graubünden, Schweiz) zu besteigen. Wir waren alle keine Profis, aber begleitet von einem erfahrenen Bergführer. Am Vorabend kam natürlich die Frage auf: Wann gehen wir denn morgen los? Erst auf Drängen äusserte sich unser Führer: «Ich wecke euch um 3 Uhr, dann nehmen wir Frühstück – und wir gehen dann, wenn alle bereit sind.» Ein simpler, bescheidener Satz, aber wie wahr!

Aus seiner Erfahrung wusste der Führer, dass er seine unerfahrenen Kameraden besser nicht stresst mit einer Zeitvorgabe. Stattdessen referenzierte er auf das Ereignis und Ziel: Wir kommen alle auf den Gipfel! Für ihn war nicht die Uhrzeit, die chronometrische Zeit wichtig, sondern das Ereignis. Jedes Ereignis hat seine eigene Zeit, und allein diese ist für den Erfolg relevant.

 

Ereigniszeit

Der Mensch ist keine Maschine, keine Uhr, er ist ein Wesen der Natur mit ihren eigenen Zyklen und Rhythmen.  Jeder Landwirt weiss, dass das Getreide nicht jeweils an einem bestimmten Tag, z.B. am 22. Juni, gemäht werden kann, sondern erst dann, wenn es reif ist!

Solche Phänomene kennt jeder von uns, wobei wir sie eher als störend wahrnehmen. Wer hat nicht schon erfahren, dass die Arbeit am Montagvormittag nur zähflüssig von der Hand geht und nichts «Gscheites» dabei herauskommt. Beharren auf Zeitvorgaben wirkt eher kontraproduktiv und führt zu Fehlern.

Oder: Eine Arbeitsgruppe arbeitet in einem Workshop und läuft langsam zur Hochform auf, die Kreativität sprüht, man spielt sich die Bälle zu, es werden tolle Ergebnisse skizziert - aber dann wird es 16 Uhr, 17 Uhr - am Freitagnachmittag - und plötzlich ist der «Drive» weg und die Leute drängen ins Wochenende, die eben noch tolle Spannung platzt wie eine Seifenblase ...

Geben wir jedem Ereignis seine Zeit, dann machen wir viel reichhaltigere und qualitativ bessere Erfahrungen! Die Erlebnisse werden eindrücklicher, farbiger, nachhaltiger. Natürlich ist das nicht immer möglich, aber oft schon: Wir können uns Zeitinseln nehmen für eine konzeptionelle Arbeit, für ein Hobby, für den Urlaub ohne Smartphone!

Wenn wir den Ereignissen nicht ihre Zeit geben, rauschen sie an uns vorbei, ohne Ergebnisse, ohne nachhaltige Erfahrung. Wenn uns die Chronometrie dominiert, werden wir durch die Zeit und unser Leben gehetzt - ohne Qualität und ohne Freude.

Die Ereigniszeit ist nicht eine Abfolge von Minuten und Stunden, sondern eine Dauer. Ein Erlebnis, eine Erfahrung knüpft immer an früher gemachte Erfahrungen an. Ein Abendessen in einem guten Restaurant, der Besuch eines Konzerts oder der Ausflug in die Berge kann ich nur erfahren und bewerten, weil ich es mit früheren Erfahrungen vergleiche. Dadurch erhalten sie ihren Wert - oder Unwert, sind sie schön oder hässlich.

Der französische Philosoph Henri Bergson nennt dieses Verständnis der Zeit als Abfolge von Ereignissen «la durée», die Dauer, im Gegensatz zur (chronometrischen) Zeit, die nur die Minuten zählt. Wie oft vermischen wir «la durée» mit der Uhrzeit, verlassen ein Konzert vor dem Ende, um noch eine bessere Zugverbindung zu erwischen oder ärgern uns, wenn unsere Freunde eine halbe Stunde nach der vereinbarten Zeit zum Essen erscheinen.

Durch eine Fokussierung auf die Ereignisse können wir die Zeit in unserer Wahrnehmung reicher und farbiger machen. Wir können gewissermassen die Zeit verlangsamen, wenn wir uns nicht zu stark von der Uhr drängen lassen.

 

Entscheidungszeit

Die Dominanz der chronometrischen Zeit erfahren wir vor allem in Entscheidungssituationen: Für eine neue Arbeitsstelle habe ich mich bis zum Tag X zu bewerben, die Offerte des Lieferanten hat ein Verfalldatum, und die Zahlung muss bis um Mitternacht Ortszeit überwiesen werden! Tempo, Druck - Zeit ist Geld!

Klar: Es gibt Entscheidungen, die innert Minuten oder gar Sekunden entschieden werden müssen. Der Pilot eines Verkehrsflugzeugs kann in einer kritischen Situation nicht stundenlang überlegen, und der Chirurg muss bei Komplikationen schnell, aber auch richtig entscheiden, um das Leben des Patienten zu retten. Und selbst jeder und jede von uns hat bei schneller Fahrt auf der Autobahn schon kritische Situationen erlebt, die durch blitzschnelle Entscheidungen und Handlungen entschärft wurden.

Aber in zahlreichen Entscheidungssituationen wäre uns die Zeit gegeben, alles reiflich zu überlegen. Wie oft aber handeln wir trotzdem affektiv-emotional? Sagen einfach mal «nein», oder auch «ja», weil wir mit dem Kopf schon bei einem anderen Thema sind?

Künstlicher Zeitdruck und Aktionismus ist vielleicht gut für das Reporting gegenüber dem Chef, führt aber keineswegs zu grossartigen Resultaten. Mark Twain hat den berühmten sarkastischen Satz geschrieben: «Als sie das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten sie ihre Anstrengungen.»

Der Neurowissenschafter und Psychologe Gerhard Roth empfiehlt, sich bei Entscheidungen angemessen Zeit zu nehmen, rationale Beweggründe zu berücksichtigen, aber durch eine Denkpause dem Hirn auch Zeit zu gewähren, die Entscheidung nochmals zu reflektieren. Sich nicht drängen zu lassen, und auch mal zu sagen: «Das muss ich mir nochmals überlegen!»

Bei der Lektüre des Textes von Roth hörte ich meinen längst verstorbenen Vater, der mir schon als Junge immer wieder mal sagte: «Das überschlafen wir erst mal - morgen ist auch noch Zeit für die endgültige Entscheidung!»