Alain Dehaze: «Wir brauchen eine 4. Säule für die Bildung»

NZZaS 26. Januar 2019

Was für eine innovative Idee! Zusammen mit einer Datenbank, in der die erworbenen Fähigkeiten und Kompetenzen der Menschen nachvollziehbar und aussagekräftig festgehalten werden, wäre das ein grosser qualitativer Schritt vorwärts in eine flexible Arbeitswelt!

«Wir brauchen eine 4. Säule für die Bildung»

Adecco-Chef Alain Dehaze fordert einen neuen Sozialvertrag mit besserem Schutz für alle Arbeitnehmer und mehr Geld für die Bildung.

NZZ am Sonntag: Sie engagieren sich mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für eine neue Sozialpartnerschaft. Weshalb?

Alain Dehaze: Wir beobachten ein abnehmendes Vertrauen der Menschen in die Wirtschaft. Zwar gibt es grosse technologische Fortschritte, und auch die Wirtschaft wächst wieder. Aber viele Leute kritisieren, dass sie von diesem Wachstum nicht profitieren. Ihr Vertrauen in die Konzerne hat stark gelitten. Das müssen wir ernst nehmen und agieren.

Sie sehen die Bewegung der «Gilets jaunes» in Frankreich oder die Diskussion um den Brexit als Ausdruck des schwindenden Vertrauens?

Die sozialen Spannungen nehmen zu. Das zeigt sich mit dem Wahlsieg von populistischen Parteien oder Demonstrationen wie in Frankreich. Deshalb brauchen wir einen neuen Sozialvertrag, um die wachsende Entfremdung zwischen der Bevölkerung, der Wirtschaft und den Regierungen zu stoppen.

Was kann ein neuer Sozialvertrag verändern?

Die bisherige Sozialpartnerschaft basierte auf dem Modell der unbefristeten Arbeitsstelle für das gesamte Erwerbsleben. Doch diese Strukturen sind überholt: Die Arbeitnehmer sind sehr mobil, viele arbeiten als Freelancer oder als Selbständige. Die Gig-Economy, bei der die Arbeit über Online-Plattformen vergeben wird, ist stark am Wachsen.

Sie fordern einen besseren sozialen Schutz für diese neuen Arbeitsformen?

Das ist eine der Kernforderungen der ILO: ein minimaler sozialer Standard, der für alle gültig ist. Wir sehen keinen Grund, weshalb ein Freelancer einen geringeren Schutz haben soll als ein Angestellter mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag. Heute haben wir meist kollektive Arbeitsverträge zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften. Wer aber selbständig arbeitet, droht durch die sozialen Maschen zu fallen.

Welchen Beitrag soll die Wirtschaft zu diesem neuen Sozialvertrag leisten?

Die Firmen müssen stärker in die Kompetenzen ihrer Mitarbeiter investieren. Heute behandeln viele Unternehmen ihr Personal vor allem als Kostenfaktor. Diese Philosophie muss sich komplett ändern. Das bedeutet, dass wir auch die Buchhaltung in den Firmen neu ausrichten sollten.

Was wollen Sie konkret ändern?

Nehmen wir zwei Firmen: Die eine entlässt Mitarbeitende, die andere bezahlt ihnen eine Weiterbildung. Die Kosten, die den beiden Firmen daraus entstehen, werden buchhalterisch gleich behandelt - obwohl die gesellschaftlichen Folgen genau gegenteilig ausfallen. Sinnvoller wäre es stattdessen, die Weiterbildung als langfristige Investition zu behandeln.

Sie fordern, dass sich die Unternehmen weniger auf den kurzfristigen Erfolg ausrichten?

Ja. Die Unternehmen sollen mit dem Sozialvertrag einen grösseren Anreiz erhalten, in ihr Humankapital zu investieren. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vor zwei Wochen hat eine grosse belgische Telekomfirma im gleichen Communiqué die Streichung von 1900 Stellen sowie die Rekrutierung von 1250 neuen Digital-Spezialisten verkündet. Ich bin überzeugt, dass sich viele Entlassungen verhindern liessen, wenn wir die Weiterbildung in den Firmen fördern könnten.

Für die Schweiz schlagen Sie als konkrete Massnahme vor, das bewährte Drei-Säulen-System auf die Weiterbildung auszudehnen.

Genau, die Schweiz braucht eine 4.Säule für die Bildung. So wie heute alle Arbeitgeber und Angestellten gemeinsam in die Altersvorsorge einzahlen, könnten sie in ein Weiterbildungskonto investieren. Wer die Stelle wechselt oder selbständig wird, nimmt das Kapital mit. So hat jeder stets einen Rucksack bei sich. Wenn der eigene Beruf vom Wandel betroffen ist, kann man davon profitieren.

Denken Sie, dass die Bildung in der Schweiz einen zu geringen Stellenwert hat?

Mit dem dualen Bildungssystem und der Berufslehre ist die Schweiz sehr fortschrittlich. Doch die Arbeitswelt steht vor einer fundamentalen Veränderung. Die Zeiten, als man eine Ausbildung durchlief und danach arbeitete, sind vorbei. In Zukunft verläuft beides parallel. Dazu kann die 4.Säule einen wertvollen Beitrag leisten. Schon heute haben die Kompetenzen eine viel geringere Lebensdauer: Innert vier Jahren entwerten sich unsere Fähigkeiten um etwa 30%.

Laut Studien setzt die Digitalisierung die Menschen mit einer mittleren Qualifikation am stärksten unter Druck. Wie erklären Sie das?

Der Bedarf an hochausgebildeten Spezialisten steigt. Ebenso werden einfachere Berufe im Service-Bereich immer gefragt bleiben, Personen also, die den direkten Kontakt zu den Kunden pflegen. Schwierig wird es dagegen für die administrativen Tätigkeiten: Viele Prozesse werden künftig völlig automatisiert. Die grosse Umwälzung aufgrund der künstlichen Intelligenz steht uns erst bevor. Wir schätzen, dass weltweit 370 Mio. Menschen bis zum Jahr 2030 umgeschult werden müssen, damit sie arbeitsmarktfähig bleiben.

Hier am WEF in Davos betonen viele der Teilnehmer, dass die Globalisierung keine Verlierer erzeugen soll. Doch in der Bevölkerung herrscht Skepsis: Die Leute wollen Taten sehen statt schöne Worte.

Die Globalisierung stellt uns vor enorme Herausforderungen. Diese zu bewältigen, braucht jedoch Zeit. Das WEF bietet eine Plattform, wo sich Personen aus den unterschiedlichsten Bereichen austauschen können: Sozialpartner, Arbeitsminister, Kunden und Medien. Einen solch vielfältigen Dialog gibt es sonst nirgends.

Als CEO der Adecco-Gruppe sind Sie verantwortlich für 34 000 Angestellte in 60 Ländern: Haben Sie angesichts des Drucks der Investoren überhaupt den Spielraum, um mehr in die Weiterbildung zu investieren?

Zu meinen Aufgaben gehört es, einen guten Ausgleich zwischen den Interessen der Kunden, der Mitarbeitenden, der Investoren sowie der Gesellschaft als Ganzes zu finden. Es bringt nichts, eine Gruppe zu bevorzugen. Manchmal bezeichne ich meine Funktion des CEO im Scherz auch als Chief Entertainment Officer: Wenn Sie bei sich zu Hause Gäste empfangen, dann wollen Sie ja auch, dass sich alle wohlfühlen bei Ihnen und wiederkommen wollen. Meine Rolle bei der Adecco-Gruppe sehe ich ähnlich wie die eines ausgezeichneten Gastgebers. Interview: Albert Steck