Every day is a fresh start ... über Gewohnheit und Routine

Gewohnheiten sind das Sicherungsnetz im Hochseilakt des Lebens. Zahlreiche tägliche Handlungen sind durch Gewohnheit und Routine bestimmt – die Forschung geht davon aus, dass zwischen 40 und 50% aller Handlungen eines Tages in der einen oder anderen Weise auf Routine zurückgeführt werden können. Dabei überschneidet sich zielorientiertes und bewusst abwägendes Handeln oft mit Gewohnheiten. Wir setzen uns zum Beispiel an den Laptop, um für den heutigen Samstagabend Eintrittskarten für das Theater zu buchen. Dabei sehen wir, dass in der Mail-Box neue Mails eingetroffen sind – und schwupps sind wir dabei, Mails zu beantworten, obwohl eigentlich Wochenende ist. Das rote Icon mit einer Zahl, welche die ungeöffneten Mails anzeigt, löst einen Mechanismus und eine Handlung aus, die nicht bewusst überlegt wird. Nicht verwunderlich, dass der Volksmund den wenig schmeichelhaften Satz prägte: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.

Gewohnheitsmässige Handlungen, die ausgelöst durch einen Impuls oder ein Setting weitgehend unabhängig vom Bewusstsein ablaufen, sind natürlich im täglichen Leben ein grosser Vorteil. Man stelle sich vor, jedes Aufstehen am frühen Morgen, Toilette, Anziehen, Frühstück etc. wäre das Resultat eines ausführlichen Entscheidungsprozesses mit der Evaluation der Vor- und Nacheile, wir würden nur sehr verspätet zur Arbeit kommen. 

Zu bedenken ist aber, dass die gewohnheitsmässigen Handlungen oder Denkmuster auch bedeutende Risiken in sich bergen. So ist bei Gewohnheiten und Routine das Bewusstsein abgeschottet gegenüber neu auftretenden Informationen: Der Zug nach Bern fährt «immer» von Gleis 32 – also begebe ich mich, zeitlich knapp, dahin – und höre erst jetzt, was auf allen Anzeigetafeln stand, dass heute der Zug auf Gleis 8 steht! 

  • Einmal eingeübte Verhaltens- und Denkgewohnheiten gehen immer davon aus, dass heute die gleiche Situation herrscht wie gestern und vorgestern - und das kann falsch sein: Die Vergangenheit ist keinesfalls immer ein guter «predictor» der Zukunft!

Gewohnheiten und Routine vereinfachen das tägliche Leben, sie sind – im Normalfall - das Sicherungsnetz. Sie schläfern uns aber auch ein. Marcel Proust formuliert es im ersten Band seines Werkes «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» so: «Die Gewohnheit nahm mich in ihren Arm und trug mich bis in mein Bett, wie ein kleines Kind.» [1] Gewohnheiten geben uns ein Gefühl von Geborgenheit, man fühlt sich sicher und nicht gefährdet. Sie sind bequem – das spürt man dort, von Gewohnheiten Sucht bedeuten. 

Mit dieser Sicherheit verlieren wir aber auch die Neugier auf Neues: Immer, wenn wir gewohnheitsmässig handeln oder denken, verzichten wir auf neue Erfahrungen oder neue Erkenntnisse. Die bekannte Rede der älteren Generation: «es war immer schon so»! versucht Neues zu blockieren – und vergibt dabei viele Optionen. 

  • Verhaltens- und Denkgewohnheiten schliessen kreative neue Optionen und Lösungen a priori aus, sie sind auf Bewahren gerichtet und nicht für Innovationen zu haben.

Aus Spanien ist eine Volksweisheit bekannt: «Gewohnheiten sind zuerst Spinnweben, dann Drähte.» Gewohnheiten sind zwar ein Sicherungsnetz, aber dieses Netz kann uns auch ersticken, wenn wir es nicht ab und zu überdenken, lockern und verändern. 

Gewohnheiten ändern bedeutet im Grunde, Neues wahrzunehmen und sich mit Neuem auseinanderzusetzen. Es setzt Neugier voraus und die Fähigkeit zu lernen. Das ist nicht einfach, aber möglich, und vor allem notwendig für ein bewusst wahrgenommenes Leben. Vielleicht bietet die gegenwärtig schwierige Zeit einer Pandemie, die uns andere Routinen aufzwingt, Gelegenheit und Anreiz zu einem Nachdenken über unsere Gewohnheiten.

Man bleibt jung, solange man lernen, neue Gewohnheiten annehmen und Widerspruch ertragen kann. (Maria von Ebner Eschenbach 1830-1916)

 


[1] Marcel Proust, 2011, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 1. Band, S. 169 (Suhrkamp, Frankfurt am Main)